Leitartikel

Münchner Woche für Seelische Gesundheit. Gesund arbeiten.

Wann ist Arbeit ungesund für die Psyche? Was sagen Gesetze und Verordnungen? Und was können Unternehmen und Ärzt*innen tun, damit es den Menschen besser geht? Im Vorfeld der Woche für Seelische Gesundheit und einer ÄKBV-Veranstaltung zum Thema „Gesund arbeiten?!“ sprachen die MÄA mit Prof. Dr. Britta Herbig und PD Dr. rer. biol. hum. Tobias Weinmann vom LMU Klinikum.
Münchner Woche für Seelische Gesundheit. Gesund arbeiten
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Frau Prof. Herbig, Herr Dr. Weinmann, wie stelle ich fest, dass meine Arbeit ungesund ist?
Herbig: Sie alleine werden das möglicherweise gar nicht feststellen oder schnell entscheiden können. Die gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie thematisiert verschiedene Arbeitsbedingungen: Sind die Arbeitsinhalte angemessen, und fordern sie Sie? Können Sie sich dabei weiterentwickeln, oder sind Sie gelangweilt? Haben Sie gerade eine Baustelle vor der Tür, oder sitzen Sie in einem lauten oder heißen Großraumbüro? Ist Ihr Arbeitsplatz ergonomisch? Wie läuft die Arbeitsorganisation? Bekommen Sie soziale Unterstützung von den Kolleg*innen und der Chefin? Sind Sie im Schichtdienst, und entspricht dieser Ihrem Biorhythmus? Unternehmen sollen Gefährdungsbeurteilungen zu psychischen Belastungen durchführen.
Weinmann: Als einfache Mitarbeiterin haben Sie oft wenig Einflussmöglichkeiten, z.B. auf Aufgaben und deren Verteilung. Man weiß aber, dass sich z.B. Entscheidungs- und Handlungsspielräume bei der Arbeit gesundheitsförderlich und förderlich
auf die Arbeitszufriedenheit auswirken. Ob Sie diese haben oder nur stur Vorgaben abarbeiten müssen, hängt stark von Ihrer Führungskraft und deren Führungsstil ab. 

Was sagt der Arbeitsschutz?
Herbig: Das deutsche Arbeitsschutzgesetz Vergleich, etwa mit den USA, großartig. Es zielt darauf ab, die Psyche zu schützen und dabei primärpräventiv zu arbeiten. Arbeitgeber*innen sollen die Bedingungen für alle Mitarbeitenden so gestalten, dass sie nicht gesundheitsgefährdend, sondern im besten Fall sogar gesundheitsförderlich sind. Und das ist keine Kann-Lösung. Allerdings gibt es leider keine Sanktionen – anders als in Bereichen mit klaren biologischen, chemischen und physikalischen Gefährdungen. Zunehmend fordern die Unfallversicherungsträger und die Gewerbeaufsicht von den Unternehmen aber, die Unterlagen über regelmäßige Gefährdungsbeurteilungen im Hinblick auf psychische Belastungen vorzulegen. Denn Unternehmen sind gesetzlich zur regelmäßigen Gefährdungsbeurteilung verpflichtet und müssen ergriffene Maßnahmen, Fortschritte und Veränderungen dokumentieren.

Welche Aspekte benennen Forschung und Gesetz?
Herbig: Im Gesetz steht immer nur „Gefährdung der psychischen Gesundheit“. Konkrete Punkte werden aber durch die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie beschrieben. In der Forschung betrachten wir verschiedenste Arbeitsbedingungen, etwa das Führungsverhalten oder die Kontrollmöglichkeiten. Die klassische Arbeitspsychologie beschreibt in Modellen, wie diese Aspekte zusammenwirken. Auch diese vermeintlich „weichen“ Faktoren der Arbeitsgestaltung können zu manifesten psychischen oder auch physischen Erkrankungen führen, etwa zu Herz- Kreislauf-Erkrankungen, bis hin zum plötzlichen Herztod. Dies zeigen einige große Metaanalysen.

Ist die Deutsche Arbeitsschutzstrategie optimal?
Weinmann: Zumindest deren Umsetzung in der Praxis sicher nicht. Allerdings ist eine Gefährdungsbeurteilung zu einer psychischen Belastung auch deutlich schwieriger umzusetzen als etwa zu einer Belastung durch Lärm. In einer großen
Produktionshalle mit lauten Geräten messe ich einfach den Dezibelwert und vergleiche ihn mit dem gesetzlichen
Grenzwert. Bei der Psyche ist dies ungleich schwieriger erfassbar. Und: Ist es zumutbar, wenn ich dreimal die Woche vom Vorgesetzten angeblafft werde, oder ist das schon gesundheitsgefährdend? In der Forschung wird eine riesige Bandbreite
an Faktoren und deren Kombinationswirkungen diskutiert. Das soll aber keine Rechtfertigung dafür sein, als Unternehmen einfach gar nichts zu tun.

Gibt es denn gar keine Sanktionsmöglichkeiten?
Herbig: Zunächst ist es wichtig, gehäuft vorkommende Probleme zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu entwickeln. Zum Beispiel bei sozialen Themen haben einige große Unternehmen klare Regeln zu Mobbing, Bullying, Harassment etc. aufgestellt. Oft hilft es, wenn man Ansprechpartner*innen für Betroffene installiert und dafür sorgt, dass beide Seiten gehört werden, weil die Situation oft nicht so eindeutig ist. Bei immer wiederkehrenden sozialen Problemen sollten
Organisationen eine Konsequenz ziehen und damit zeigen: Wir kümmern uns darum.

Was muss in einer Gefährdungsbeurteilung stehen?
Herbig: Im Jahr 2013 wurden auch die psychischen Gefährdungen explizit ins Arbeitsschutzgesetz aufgenommen (§ 5 ArbSchG). Damals gab es einen Aufschrei, dass darin nichts konkret zu Vorgehen und Methoden festgeschrieben ist. Ein kleines oder mittelständisches Unternehmen kann aber nicht die gleiche Form von Gefährdungsbeurteilung vornehmen wie ein Großkonzern und andersherum. Es gibt auch keine vorgeschriebenen Methoden oder Formate zur Dokumentation.
Viele Institute, auch unseres, und die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin haben aber Handreichungen veröffentlicht. Wichtig ist, dass sich überhaupt ein betriebliches Gremium mit dem Thema beschäftigt und gemeinschaftlich
den Prozess der Gefährdungsbeurteilung begleitet. Hierzu gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden, z.B. ordentlich dokumentierte, eine Priorisierung enthaltende Diskussionsrunden oder Arbeitsplatzbegehungen sowie Checklisten und Fragebögen. Wichtig ist es dabei, nicht nur eine Perspektive, z.B. die der Führungskräfte zu betrachten. Und man muss entscheiden: Wie werden die Fragebögen ausgewertet: auf Unternehmensebene insgesamt, oder z.B. auf Abteilungsebene?

Gibt es Studien zu den Auswirkungen ungesunder Arbeit?
Herbig: In rauen Mengen. Große aktuelle Metaanalysen zu Langzeitstudien haben dies z.B. deutlich und signifikant gezeigt: Wenn keine Autonomie bei der Arbeit vorhanden ist, erhöht dies das Risiko, an einer Depression zu erkranken um das etwa 1,6-Fache und für eine koronare Herzerkrankung um das etwa 1,4-Fache. Durch Mobbing steigt das Risiko für Depression um das 2,8-Fache. Dies sind durchaus beachtliche Größenordnungen. Wobei man einschränkend dazu sagen muss, dass wir trotz aller Bemühungen andere möglicherweise wichtige Faktoren nie komplett abbilden können. Das gilt aber für alle Studien dieser Art.
Weinmann: Dass es das Risiko für eine Reihe von Krankheiten erhöht, wenn ich als Mitarbeitende*r keine Handlungsspielräume habe, ist wissenschaftlich unumstritten. Schwierig wird es bei der Quantifizierung: Ab wann ist fehlende Autonomie gesundheitsgefährdend? Dennoch kann man diesen Faktor in eine Gefährdungsbeurteilung oder z.B. auch in ein Mitarbeitergespräch einbringen. Ein Mitarbeitergespräch sollte nicht nur die Ziele im nächsten Jahr enthalten, sondern auch Themen der Arbeitsgestaltung wie eben z.B. Handlungsspielräume thematisieren.

Was ist zu neuen kognitiven oder digitalen Anforderungen zu sagen?
Herbig: In der Forschung geht es hier sowohl um die Menge als auch um die Art von Informationen, mit denen wir zu tun haben. Kann unser Gehirn all dies noch verarbeiten? Eine klassische E-Mail kann man ja nicht anfassen. Sie riecht nicht, schmeckt nicht und erzeugt eher selten Bilder im Kopf. Auch die Asynchronität von Informationen kann eine Überlastung sein: In einem großen Team passiert vieles gleichzeitig. Häufig kommt aber auch eine Reaktion auf eine Mail von vor drei
Tagen. Und in vielen Branchen ändern sich derzeit durch Künstliche Intelligenz (KI) die Tätigkeitsprofile – Stichwort z.B. algorithmisches Management.
Weinmann: Beim algorithmischen Management teilen Apps auf der Basis von KI die Aufgaben zu und geben Feedback, nicht mehr die Vorgesetzten. Langfristig kann dies die Motivation und Arbeitszufriedenheit aber stark beeinträchtigen, z.B. wenn Reinigungskräfte unlogische Anweisungen von Apps erhalten und etwa nach der Reinigung eines Zimmers im ersten Stock zur Reinigung eines zweiten plötzlich in den siebten Stock sollen. Ein anderes Beispiel: In der Logistik z.B. übernehmen
Roboter immer häufiger Aufgaben, die früher Menschen erledigt haben. Dies kann Stress verursachen, wenn etwa eine Person, die früher Waren einsortiert hat, nun den ganzen Tag nur deshalb neben dem Roboter sitzt, falls irgendwo ein
technisches Problem auftaucht.

Was raten Sie Ärzt*innen, wenn Patient*innen Probleme bei der Arbeit haben?
Herbig: Aufgrund von Zeitmangel wird leider oft nur wenig über die Arbeit gesprochen. Ich würde aber versuchen, herauszubekommen: Ist die Arbeitssituation ein größeres Thema für den Patienten oder die Patientin? Bei sehr massivem Mobbing
kann es hilfreich sein, zu einem Jobwechsel zu raten. Wenn möglich, wäre es gut, mit den Betriebsärzt*innen zu reden, die auch eine Schweigepflicht haben. Könnte man einen anderen Arbeitsplatz für die Patientin finden? Oder könnte man die Stunden reduzieren – so wie bei einer beruflichen Wiedereingliederung? Natürlich können Sie die Patient*innen auch nur ins „normale“ Gesundheitssystem verschieben und dann z.B. die Depression behandeln. Aber das ändert nichts an der Situation.
Weinmann: Gleichzeitig ist es völlig berechtigt zu sagen: Ich muss erst einmal die Krankheit behandeln. Es schadet aber nichts, sich auch eine fachärztliche Expertise von Arbeits-oder Betriebsmediziner*innen zu holen – auch wenn ich natürlich verstehe, wenn ein Hausarzt aufgrund der Überlastung keine Zeit hat, noch zwei Stunden mit der Betriebsärztin zu sprechen.

MÄA 20 vom 27.09.2025


Das Interview führte Stephanie Hügler

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