Diversität in der Notfallmedizin. Gleich (gut) behandelt

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Frau Waldherr, warum braucht es eine Fortbildung zu „Culture, Sex & Gender in der Notfallmedizin“?
In der Notfallmedizin müssen wir häufig sehr schnelle Entscheidungen treffen, die die weitere Versorgung beeinflussen. Gerade in München behandeln wir dabei Patient*innen, die sich je nach Herkunft, Kultur und Religion stark unterscheiden. Damit wir alle gut und individuell versorgen und niemanden aufgrund von Stereotypien unterbewusst benachteiligen, müssen wir uns mit dem Einfluss dieser Faktoren auf die Versorgung, das Verständnis oder auch den Ausdruck von Krankheit oder Beschwerden auseinandersetzen. Das Gleiche gilt für das Geschlecht. Es gibt viele handfeste geschlechterspezifische Faktoren, deren Einflüsse in der Notfallmedizin nicht sehr bekannt sind. Und natürlich unterliegen wir alle auch hier stereotypen Denkweisen.
Die Gendermedizin ist doch stark im Kommen.
Die meisten Kolleginnen und Kollegen wissen inzwischen von möglichen Unterschieden in der Präsentation eines Myokardinfarkts. Auch bei anderen Krankheiten kann es aber teilweise ganz verschiedene Beschwerden geben. Weil ein Symptomkomplex immer schwerer greifbar ist als einzelne konkrete Beschwerden, werden diese womöglich nicht auf eine bestimmte Krankheit bezogen. Auch dass viele Medikamente bei Männern und Frauen unterschiedlich wirken, ist oft noch nicht bekannt. Das führt dazu, dass Frauen viel häufiger über Nebenwirkungen klagen, aber nicht ernst genommen werden. Man ist es einfach gewohnt, Medikamente in bestimmten Dosierungen zu geben. Männer und Frauen kommunizieren außerdem manchmal unterschiedlich.
Bei der Prävention werden geschlechterspezifische Faktoren ebenfalls noch zu wenig berücksichtigt: Männer gehen z.B. im Schnitt seltener zur Vorsorge als Frauen, und Lebensstil und Risikoverhalten unterscheiden sich – und damit auch das Risiko, bestimmte Krankheiten zu entwickeln. Gleichzeitig nehmen wir manchmal vielleicht auch Ungleichheiten an, die gar nicht bestehen. Bei einer Frau vermute ich vielleicht eher eine Osteoporose als bei einem Mann – und lasse ihm daher bestimmte Untersuchungen vielleicht gar nicht erst zukommen oder denke erst sehr viel später daran.
Welche kulturellen Besonderheiten sollten in der Notfallmedizin bei der Anamnese, der körperlichen Untersuchung, der Diagnostik berücksichtigt werden?
Wenn die behandelte Person nicht die gleiche Sprache spricht oder diese nicht so gut beherrscht, kann es bei der Anamnese zu Missverständnissen kommen. Bei kommunikativen Problemen können z.B. „Kulturmittler*innen“ helfen: Das sind Dolmetscher*innen, die nicht nur die Sprache übersetzen, sondern aus dem jeweiligen Land kommen oder dort lange gelebt haben und so sozusagen zwischen den unter- schiedlichen Werten dolmetschen können.
In jedem Fall sollte ich auch in der Notaufnahme auf meine Kommunikation achten: Die Patient*innen sollten mich gut verstehen, aber ich sollte auch offene Fragen stellen – nicht nur solche, die mit Ja und Nein beantwortet werden, um zu prüfen, ob verstanden wurde, über was z.B. aufgeklärt wurde. Dabei sollte ich keine vereinfachten, grammatikalisch inkorrekten Sätze benutzen oder Personen gar duzen. Sonst fühlt sich die Person womöglich diskriminiert. Und es kann vorkommen, dass wir eine Sprachbarriere aufgrund von Äußerlichkeiten annehmen, die Person aber trotzdem in Deutschland mit unserer Sprache und unseren Werten aufgewachsen ist. Gleichzeitig sollte man im Kopf behalten, dass sich das Verständnis von Krankheit und der Ausdruck von Beschwerden je nach Kultur stark unterscheiden können.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir das Thema Schmerz: Wie ich diesen ausdrücke, hängt stark damit zusammen, wie ich geprägt und aufgewachsen bin. In manchen Kulturen darf man Schmerzen mit anderen teilen, in anderen trägt jede Person ihre Beschwerden im Stillen aus. Jemand kann von wahnsinnigen Schmerzen berichten, dabei aber relativ ruhig und unbeeinträchtigt aussehen. Ein sehr emotionaler Schmerzausdruck bedeutet umgekehrt nicht, dass jemand „übertreibt“. Ängste, Unsicherheiten und Stress durch eine Sprachbarriere oder die Herkunft aus einem anderen Gesundheitssystem können Schmerzen verstärken. Auch dies sollte man ernst nehmen. Trotzdem müssen wir uns bewusst machen, dass der Umgang mit Krankheit sehr individuell ist und nicht nur von unserer kulturellen Prägung, sondern auch z.B. von unserem Rollenverständnis und persönlichen Erfahrungen abhängt. Wenn wir unseren Stereotypen ungefiltert folgen, besteht die Gefahr von Fehleinschätzungen.
Spielt das auch bei der Therapie eine Rolle?
Ja, weil dadurch Unterschiede bei Behandlungszeiten entstehen können. In Deutschland gibt es dazu noch zu wenig Daten, aber Studien aus skandinavischen Ländern oder den USA zeigen zum Beispiel, dass Personen mit schwarzer Hautfarbe seltener und später Schmerzmittel bekommen – und damit ein höheres Risiko für Folgeerkrankungen oder für eine Chronifizierung von Schmerzen haben. Ob es genetisch bedingte, biologische Unterschiede bei Personen unterschiedlicher ethnischer Gruppen gibt, die tatsächlich die Medikamentenwirkung beeinflussen, ist ein kontroverses Thema. Ich bin der Meinung, dass wir allein aufgrund der Annahme der Herkunft einer Person keine Unterschiede machen sollten.
Welchen Einfluss kann das Geschlecht auf die Anamnese haben?
Wir alle haben Vorannahmen, wie das eine oder andere Geschlecht auf Schmerzen reagiert und damit umgeht, obwohl auch das sehr individuell ist. Es gibt allerdings tatsächlich auch biologische Unterschiede, beispielsweise durch den Einfluss von Hormonen, insbesondere von Sexualhormonen. Schmerz bei Frauen ist häufig zyklusabhängig. Frauen machen außerdem tendenziell mehr Gewalterfahrungen und haben diesbezüglich Angst und Stress erlebt. Auch das kann einen großen Einfluss auf die Schmerzempfindung haben.
Bei der Therapie gibt es ebenfalls biologische Unterschiede: Da ihre Rezeptoren anders verteilt sind, benötigen Frauen im Durchschnitt weniger Morphin für die gleiche Wirkung als Männer. Insgesamt leiden Frauen unter fast allen Schmerzerkrankungen häufiger und suchen deswegen auch öfter Hilfe. Wichtig ist, emotionale Schmerzdarstellungen nicht abzuwerten und Frauen deshalb nicht später oder seltener Schmerzmittel zu geben. Außerdem sollte man bei Bauchschmerzen zwar immer an eine Schwangerschaft denken, aber dadurch nicht andere Diagnosen vernachlässigen. Geschlechterunterschiede müssen berücksichtigt, dürfen aber nicht überbewertet werden.
Gibt es eine unterschiedliche Wahrnehmung von Krankheit bei Männern und Frauen?
Es gibt eher Unterschiede bei der Prägung, die beeinflusst, wie mit Krankheit umgegangen wird. Wenn Jungen z.B. lernen, stark sein zu müssen und nicht weinen zu dürfen, haben sie später oft Schwierigkeiten, Beschwerden zu äußern. Bei Frauen ist es oft andersherum. Kulturell gibt es große Unterschiede beim Verständnis von Krankheit. Auch hierzu haben wir einen Abschnitt in der Fortbildung – von einem externen Referenten, der dies u.a. anhand von Videos darstellt. In manchen Kulturen wird Krankheit als selbst verursacht oder aber als Schicksal angesehen. Dies beeinflusst, wie man Krankheit annimmt und bewältigt. Wichtig ist es, trotzdem einen offenen Blick zu behalten und keine Unterschiede bei der Versorgung zu machen.
Wir haben über Kultur und über das biologische Geschlecht (Sex) gesprochen, aber noch nicht über das soziale Geschlecht (Gender).
Wir alle haben ein biologisches, bei der Geburt festgelegtes, und ein soziales oder soziokulturelles Geschlecht, mit dem wir uns identifizieren. Es ist geprägt durch unsere Umwelt, durch unser Rollenverständnis, mit dem wir aufwachsen. Das kann sich mit der Zeit verändern. Es gibt z.B. Personen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das bei der Geburt festgelegt wurde, zum Beispiel trans* Personen. In der medizinischen Versorgung wird darüber noch wenig geredet, und es bestehen Unsicherheiten im Umgang mit trans* Personen. Daher haben wir dieses Thema in die Fortbildung aufgenommen – genauso wie das Thema häusliche Gewalt. Denn auch darüber gibt es noch zu wenig Wissen und zu viele Unsicherheiten im alltäglichen medizinischen Handeln. In den Notaufnahmen wird Gewalt zu selten entdeckt. Wir besprechen: Woran erkenne ich häusliche Gewalt? Wie spreche ich einen Verdacht an? Und wohin kann ich Personen vermitteln, die davon berichten?
Sie behandeln auch das Thema Sterben und Tod.
Hier gibt es große Unterschiede bei den Vorstellungen darüber: Was kommt nach dem Tod? Wie sieht der Sterbeprozess aus? In der Fortbildung vermitteln wir Kenntnisse über die Unterschiede zwischen den Religionen, etwa beim Umgang mit verstorbenen Personen. Gleichzeitig ist das Thema so komplex, dass wir nicht alle Unterschiede kennen können. Und auch hier gilt wieder: Nur weil eine Person einer bestimmten Religion angehört, heißt es nicht, dass sie die Religion auch lebt. Deswegen sollten wir diesbezüglich keine Annahmen treffen, sondern eine offene Kommunikation mit Sterbenden und ihren Angehörigen pflegen. Es ist wichtig, nachzufragen, was sich die Personen oder die Angehörigen wünschen. Sofern es im Rahmen der jeweiligen Krankenhaus- oder Palliativversorgung möglich ist, sollten wir versuchen, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.
Braucht es nicht sehr viel Zeit, alle diese Fragen in einer stressigen Notaufnahme zu berücksichtigen?
Dieser Einwand kommt oft, aber er ist meistens unbegründet. Wir können Wissen über Unterschiede vermitteln und gleichzeitig die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum Perspektivwechsel üben. In einer akuten Stresssituation geht dann nämlich alles schneller, und wir erkennen schneller, ob wir einem stereotypen Muster folgen. Es geht uns nicht dar- um, bewährte Algorithmen oder standardisierte Vorgehensweisen infrage zu stellen. Sondern wir üben, in nicht akut lebensbedrohlichen Situationen zu reflektieren, ob wir einem Bias zu Geschlecht oder Kultur unterliegen. Dies hilft, die Kommunikation richtig zu beginnen und kann die Behandlungszeiten sogar verringern. Außerdem vermitteln wir den Patient*innen so, dass wir sie als Menschen wahrnehmen – was besonders in der Notfallmedizin sehr wichtig ist.
Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 19 vom 13.09.2025