Leitartikel

Impfungen vor der Wiesn. Feiern, ohne dass der Arzt kommt

Die Wiesn-Zeit steht vor der Tür und mit ihr auch die sogenannte „Wiesn-Grippe“. Die MÄA sprachen mit Prof. Dr. Ulrike Protzer und Prof. Dr. Christoph Spinner vom TUM Klinikum über wichtige Impfungen vor der Wiesn, Impf-Ressentiments in der Bevölkerung und Lehren aus der Corona-Pandemie.
Impfungen vor der Wiesn. Feiern, ohne dass der Arzt kommt
Impfungen vor der Wiesn. Feiern, ohne dass der Arzt kommt

Foto: Shutterstock

Frau Prof. Protzer, Herr Prof. Spinner, ist ein Ausbruch der „Wiesn-Grippe“ dieses Jahr wieder unvermeidbar?

Protzer: Die Zirkulation von Viren, die Atemwegserkrankungen verursachen, kann man nicht vermeiden. Sie nimmt immer zu, wenn es kälter wird und die Tage kürzer werden. Aus  der Corona-Pandemie haben wir alle gelernt, dass sich Viren in Innenräumen ohne Luftzirkulation sehr gut verbreiten. Das Oktoberfest bietet für sie also optimale Bedingungen. Bei der „Wiesn-Grippe“ handelt es sich meist um Virus-Infekte der oberen Atemwege ohne schwere Folgen. In München sehen wir während der Wiesn aber auch immer wieder die ersten Fälle der echten Grippe. Und auch die Coronaviren werden da wieder Hochzeit feiern.

Spinner: In den Zelten gibt es kein UV-Licht, das die Atemwegsviren inaktivieren kann, und in einem Bierzelt wird es bei ca. 6.000 bis 8.000 Menschen schnell „dampfig“, gerade wenn es draußen feuchter ist. Außerdem lässt unsere Immunität gegenüber Atemwegserkrankungen innerhalb weniger Monate nach einer Infektion nach, und es kommen viele Menschen aus aller Herren Länder zusammen. Deswegen steigt die Zahl der akuten respiratorischen Erkrankungen in Bayern und vor allem in München durch das Oktoberfest viel früher als im Rest der Republik. Ich erwarte auch dieses Jahr wieder einen frühen Anstieg der SARS-Cov2-Infektionszahlen.
Allerdings wurde Covid letztes Jahr Ende Dezember fast vollständig von einer schweren Influenza-Welle verdrängt.

Welche Impfungen empfehlen Sie zum jetzigen Zeitpunkt gegen die Infekte?

Protzer: Man kann die eigenen Impfungen gegen Grippe, SARS-Cov2 und inzwischen auch gegen RSV- Viren idealerweise noch vor dem Oktoberfest auffrischen. Das gilt für alle, die älter sind oder Risikoerkrankungen haben, aber auch für Menschen, die diese Personen betreuen oder in ihrem direkten Umfeld haben.

Spinner: Als Infektiologe würde ich sagen: Im Idealfall impfen Sie jetzt ab September gegen Covid-19 und dann im Oktober bzw. spätestens im November gegen Influenza und die über 75-Jährigen sowie chronisch Kranke über 60 neuerdings auch gegen RSV. Am einfachsten ist es aber, bei einer Impfung gleich die Triple-Impfung gegen Influenza, Covid und RSV „mitzunehmen“. Denn in Deutschland erreichen wir die besonders gefährdeten Risikogruppen oft nicht, weil die Hürden für die Impfungen teilweise relativ hoch sind – trotz der zusätzlichen Impf-Möglichkeit in den Apotheken.

Worauf führen Sie die momentanen schlechten Impfquoten zurück?

Spinner: Während der Pandemie war die Covid-Impfung regulatorisch kompliziert. Jetzt haben die Arztpraxen in der Infekt-Saison häufig ein Kapazitätsproblem. Wir empfehlen daher, die Patient*innen möglichst gleich am Tag einer ohnehin stattfindenden ärztlichen Visite zu impfen. Zweitens: Gerade in Bezug auf Covid gibt es diffuse Ängste in der Bevölkerung gegenüber den mRNA-Impfungen und ich glaube auch fast schon so etwas wie Reaktanz, also eine psychologische Abwehrreaktion aufgrund einer wahrgenommenen Einschränkung der Wahlfreiheit. Vielleicht hat der US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. deshalb kürzlich eine halbe Milliarde US- Dollar für die Forschung gestrichen und will nun lieber wieder Vollvirus- oder attenuierte Virus-Vakzine fördern. Das widerspricht zwar jeglicher wissenschaftlichen Evidenz, aber leider haben viele Menschen nach Covid verstärkte Ressentiments.

Wem würden Sie die Covid-Impfung aktuell noch empfehlen?

Protzer: Allen über 60 und denen, die an Adipositas, einer chronischen Erkrankung oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. Und denen, die auf die Wiesn gehen, auch wenn sie sich „nur“ um jemanden aus einer Hoch-Risikogruppe kümmern.

Spinner: Allen über 60-Jährigen und allen Menschen mit chronischen Erkrankungen. Das gilt für Covid und gleichermaßen für Influenza, denn die Risikogruppen sind identisch. Covid-Impfungen schützen immerhin zu etwa 80 Prozent vor einem schweren Verlauf und reduzieren die Infektionswahrscheinlichkeit um etwa 50 Prozent. Natürlich kann man sagen: Das ist ja nicht so viel, aber es reduziert eben doch die Reproduktionszahl der Viren im direkten Umfeld. Auch mir ist es wichtig, mich impfen zu lassen, bevor ich auf die Wiesn gehe, denn ich habe keine Lust, danach eine Woche krank zu sein.

Wie gefährlich ist Covid momentan – wenn wir Long Covid mal außer Acht lassen?

Spinner: Covid führt derzeit zu sehr niedrigen Hospitalisierungszahlen und einer Mortalität von um 0,5 Prozent, hauptsächlich bei älteren und chronisch kranken Menschen. Es gibt jedoch drei Hauptprobleme: Erstens müssen immer wieder Menschen mit Grunderkrankungen ihre Therapie aufgrund einer längeren SARS-CoV2-Infektion verzögern.
Zweitens besteht nach wie vor die Möglichkeit einer komplizierten Lungenentzündung mit Notwendigkeit der Hospitalisierung und/oder Intensivstationsbehandlung, was ja trotz allem ein individuelles Schicksal ist. Hinzu kommt der volkswirtschaftliche Schaden. Insgesamt ist die Mortalität von Covid bei im Krankenhaus Behandelten trotz Omikron immer noch etwa 1,5-mal so hoch wie die der Influenza.

Protzer: Und 0,5 Prozent sind immer noch jede*r Zweihundertste. Wichtig ist, dass Impfaktionen bei Hochrisikogruppen, bspw. in Pflegeheimen, frühzeitig gestartet werden. In Seniorenwohnheimen kann ich z.B. mobilen Patient*innen an einer zentralen Stelle eine Impfung anbieten, um Ansteckungen in Arztpraxen zu vermeiden. Und man kann auch selbst Ansteckungen minimieren: Wenn man sich um ältere Angehörige kümmert und selbst Erkältungssymptome hat, hilft eine FFP2-Maske, aber selbst eine einfache Mund-Nasenmaske reduziert das Risiko wirksam.

Blicken wir zurück auf die Pandemie: Was ist aus Ihrer Sicht damals gut gelaufen, und wo hätte es besser laufen können?

Protzer: Ich hätte mir gewünscht, dass man sich gegenseitig hilft. Hier in Bayern die Grenzen zu unseren italienischen Nachbar*innen zuzumachen und die müssen dann Helfer*innen aus China einfliegen, war eine Katastrophe. Das widerspricht dem EU-Gedanken diametral. Auch die Kommunikation muss verbessert werden und die Abstimmung von Maßnahmen deutschlandweit, idealerweise sogar EU-weit. Das verstehen die Menschen einfach besser.
Zwar haben wir in Deutschland trotz älterer Bevölkerung die Pandemie besser überstanden als etwa die USA, wo trotz jüngerer Bevölkerung mehr Menschen gestorben sind. Noch besser lief es aber in Ländern mit einer abgestimmten Kommunikation. Ein wunder Punkt: Was wir damals nicht wussten und was wir auch für eine nächste Pandemie leider nicht wissen, ist: Was bringen Schulschließungen? Bei Influenza-Pandemien hat es etwas gebracht, bei Covid eher nicht. Vielleicht würde man Schulschließungen bei einer weiteren Pandemie auf sehr kurze Zeiten beschränken.

Ein fataler Fehler war aus meiner Sicht die Diskussion über eine Impfpflicht, die mehr geschadet als genutzt hat und auch ethisch gesehen schwierig war. Natürlich kann man sagen: Es gibt auch eine Gurtpflicht im Auto. Aber das Tragen eines Gurtes ist eben keine invasive Maßnahme, und man kann es auch einfacher kontrollieren. Trotzdem würde ich rückblickend sagen: Ins- gesamt haben wir die Pandemie ziemlich gut gemanagt, auch wenn wir in Deutschland dazu neigen, immer eher das Negative zu sehen.

Spinner: Ja, in Deutschland fokussieren wir uns gerne auf die negativen Seiten. Medizinisch sind wir im internationalen Vergleich gut durch die Pandemie gekommen, gesellschaftlich wäre vielleicht aus der Rückschau das ein oder andere optimierbar. Von den nichtpharmazeutischen Maßnahmen wie Maskentragen und Schulschließungen wissen wir bis heute nicht genau, was wie stark wirksam war, wenn Masken punktuell auch sicher sehr viel gebracht haben. Eine Mobilitätsreduktion fand vermutlich eher durch freiwillige Verhaltensänderungen als durch Anordnungen statt. Bei der Kommunikation gab es wohl initial auch eine Über-Euphorisierung der Schutzwirkung durch die Impfung – da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen. Heute wissen wir, dass die Impfung zur Infektionsprävention nicht so wirksam war wie erhofft. Aber auch ich denke, wir sind insgesamt gut durch die Pandemie gekommen. Leider ist die Übertragbarkeit auf zukünftige Pandemien nur begrenzt möglich. Dennoch ist der Erkenntnisgewinn aus dem beständigen Wunsch einer Aufarbeitung nur begrenzt. Wir sollten lieber nach vorne schauen und uns kontinuierlich über das Wissen und die Evidenz austauschen. Zwei Dinge sind mir wichtig: Erstens: Die Kürzung der Impfstoffforschung in den USA ist fragwürdig, besonders angesichts der H5N1-Bedrohung. Zweitens: Das weltweite Wiedererstarken des Nationalismus und der Austritt der USA aus der WHO sind nicht hilf- reich, um die Gesundheit der Menschen global zu fördern. Politische Ideologien dürfen die Evidenz nicht ersetzen!

Protzer: Die internationale Kommunikation ist extrem wichtig, denn ich kann neue Ausbrüche nicht durch Grenzschließungen begrenzen. Viren halten sich nun einmal nicht an Lan- desgrenzen. Wichtig ist eine abgestimmte internationale Surveillance. Wenn heute eine neue Pandemie in Amerika entstünde, würde das womöglich nicht einmal offen kommuniziert. Genauso ist es bei China und Russland. Das macht mir schon große Sorgen.

Welche Länder haben während der Pandemie besonders gut kommuniziert?

Protzer: Zum Beispiel Singapur. Das ist ein kleines Land, aber der dortige Präsident hat durch eine sehr gut vorbereitete Rede genauso viel bewirkt wie wir durch unsere Verbote. Oder Portugal. Dort hat ein ehemaliger General sehr klar und einheitlich kommuniziert, und die Menschen sind ihm gefolgt. Auch die Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Merkel zu Anfang der Pandemie, am 18. März 2020, hat viel bewirkt. Viele Menschen sagen ja: Schweden hatte zu laxe Regeln, vor allem in der Anfangszeit. Aber die Schwed*innen haben eben mit Appellen statt mit Vorschriften gearbeitet. Dadurch ist zwar initial eine große Mortalitätswelle durch die ältere Bevölkerung gegangen, aber auf Dauer hat sich das ausgeglichen.

Spinner: Das möchte ich unterstreichen. Durch die vielen Vorschriften und Zwänge haben wir bei manchen Menschen zur Bildung von Reaktanz beigetragen – ein Problem, unter dem das Ansehen aller Impfungen bis heute leidet. Das ist sicher ein Learning für die Zukunft: Man kann leider nur einen Teil der Menschen durch evidenzbasierte Kommunikation erreichen. Andere sind eher für Emotionen oder sogar emotionalisierte Ideologien zugänglich. In diesem Fall ist eine Diskussion auf der Sachebene oft nicht zielführend und es braucht andere Kommunikationsstrategien, um auch diese Menschen zu erreichen. Die Pandemie hat gezeigt, dass es nicht nur eine Lösungsstrategie gab und gibt, sondern viele Wege nach Rom führen. Ich nehme für die Zukunft mit, dass es neben kontinuierlichem Austausch des Wissens auch immer einen breiten Diskurs mit unterschiedlichen Perspektiven braucht, um eine Balance aus sinnvollen Maßnahmen zu finden.

Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 17/18 vom  30.08.2025