App-Alarmierung für Laien und Profis. Helfen ohne Verpflichtung

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Was gibt es Neues bei „München rettet Leben“?
Braun: Wir starten gerade mit Phase drei und arbeiten seit Sommer letzten Jahres auch mit betrieblichen Ersthelfer*innen, also mit medizinischen Laien mit regelmäßiger Schulung in Herz-Lungen-Wiederbelebung. Bis jetzt haben sich etwa 100 betriebliche Ersthelfer*innen angemeldet. Alle, mit denen wir sprechen, sind sehr engagiert und möchten ihren Nachbar*innen helfen.
Prückner: Unser System mit App-Alarmierungen hat sich etabliert – nicht nur in München, sondern auch in anderen deutschen Regionen. Auch die Leitlinien weisen inzwischen auf diese Möglichkeit hin. Zwar befinden sich unsere Ersthelferquoten noch nicht auf skandinavischem Niveau, aber sie steigen. Insgesamt nehmen an der Initiative in Stadt und Landkreis München inzwischen 2.200 Teilnehmende aktiv teil.
Was für Herausforderungen gibt es?
Prückner: Für eine flächendeckende Alarmierung brauchen wir immer noch mehr Teilnehmende, weiterhin auch mehr Profis – also Ärzt*innen. Wir machen viel Öffentlichkeitsarbeit, auch über Social Media, aber es ist nicht einfach, potenziell Teilnehmende zu rekrutieren. Daher möchten wir auch hier in den MÄA wieder an Ärztinnen und Ärzte appellieren, sich zu registrieren. Man kann sich in der App jederzeit auf Pause setzen – das heißt, es gibt keine Verpflichtung zur allzeitigen Bereitschaft. Gleichzeitig möchten wir auch Laien einbinden. Je mehr Menschen reanimieren können, desto besser. Eine wichtige weitere Initiative ist z.B. die „Lebensretter-Stadt München“, die in Zusammenarbeit mit der Björn Steiger Stiftung Wiederbelebungstrainings an Münchner Schulen umsetzt. Auch der Bayerische Landtag arbeitet aktuell daran, Schüler*innen an bayerischen Schulen flächendeckend in der Reanimation zu schulen.
Was hat sich seit unserem letzten Interview in 2023 verändert?
Braun: Wir haben gemeinsam mit dem App-Hersteller einiges verbessert. Die Nutzerfreundlichkeit ist in der Anfang Juli neu aufgesetzten App deutlich gestiegen. Inzwischen kann man darin z.B. das Fortbewegungs- mittel angeben, z.B. Auto, Fahrrad oder zu Fuß, sodass die schnellsten Helfer*innen den Einsatz zuerst bekommen. Auch die Einsatzradien wurden angepasst. In der Stadt München betragen sie in linearer Distanz maximal 120 Sekunden Anfahrtszeit, im Landkreis München 300 Sekunden. Durch diese Veränderungen und durch die zusätzlichen Teilnehmenden sind die Übernahmequoten gestiegen: In etwa 60 Prozent der Fälle sind wir vor oder zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor Ort.
Prückner: Die Besatzung im Rettungswagen ist froh, wenn es vor Ort zusätzliche Helfende gibt, denn von Anfang an muss die Thoraxkompression in hoher Qualität aufrechterhalten werden, sodass die Personen sich bei der Reanimation am besten alle zwei Minuten abwechseln sollten. Dann können geschulte Helfer*innen auch parallel mit der Beatmung beginnen, und Profis können z.B. einen Zugang legen, erweiterte Maßnahmen durchführen oder einen Defibrillator anschließen.
Gibt es weitere Neuerungen in der App?
Braun: Ja. Das Protokoll wird derzeit vereinfacht. Viele Teilnehmende haben beklagt, dass sie auch bei Einsätzen ohne direkten Patientenkontakt ein langes Protokoll ausfüllen müssen. Die Navigation zum Notfallereignis ist jetzt ebenfalls viel leichter. Demnächst sollen Probealarme eingeführt werden, damit man sich besser vorstellen kann, wie ein Einsatz abläuft. Mittlerweile kann man sich außerdem vollständig digital registrieren und die eigenen Ausbildungsnachweise per E-Mail an den Abeitskreis Notfallmedizin und Rettungswesen e.V. (ANR) schicken. Ab 2026 soll die Registrierung vollständig in der App möglich sein.
Welche Berufsgruppen nutzen die App am häufigsten?
Studierende machen einen großen Teil aus. Die meisten kommen aber aus Feuerwehr und Rettungsdienst, sind z.B. Sanitäter*innen oder Notfallsanitäter*innen. Ärzt*innen befinden sich an sechster Stelle, gefolgt von Angehörigen weiterer Gesundheitsberufe. Insgesamt haben wir etwa 230 registrierte Ärzt*innen. Über die Jahre hinweg hat sich der Anteil der Ärzt*innen an allen Registrierten konstant bei etwa 10 Prozent gehalten.
Warum machen so wenige Kolleg*innen mit?
Prückner: Das ist eine gute Frage. In München sind mehr als 22.000 Ärzt*innen beim ÄKBV gemeldet. Es nehmen also nur rund 1 Prozentdavon beim Projekt teil. Was hält sie davon ab? Die Angst, sich zu blamieren oder in der Freizeit gestört zu werden? Oder Unsicherheiten, weil die eigene Schulung schon zu lange zurückliegt? Natürlich reanimieren viele Kolleg*innen nicht so oft wie Notärzt*innen oder Anästhesist*innen. Vielleicht haben manche auch Angst vor juristischen Konsequenzen und befürchten, für eventuelle Fehler zur Verantwortung gezogen zu werden. Fortbildungen und juristische Aufklärung könnten hier helfen.
Braun: Wichtig ist zu wissen: Vor Beginn der Behandlung besteht keine Garantenstellung gegenüber der hilfsbedürftigen Person.
Prückner: Und natürlich kann man nicht einfach zu einem Einsatz laufen, wenn man gerade z.B. sein Kind an der Hand hat oder anderweitig gebunden ist. Keine*r muss helfen. Wenn man einen Einsatz nicht übernimmt, fragt auch niemand nach. Und wenn man hilft, kann man natürlich auch nur die Mittel nutzen, die einem zur Verfügung stehen. Viele haben gegebenenfalls Bedenken, nicht genug zu können – aber jede Hilfe – insbesondere die Herz-Druckmassage zählt.
Was möchten Sie skeptischen Kolleg*innen sagen?
Braun: Niemand ist verpflichtet, immer verfügbar zu sein. In Zukunft wird es eine Kalenderfunktion geben, mit der man Alarmierungen zu bestimmten Zeiten im Voraus ausschließen kann. Einsätze kann man jederzeit ablehnen, und es ist auch kein Problem, wenn man den Alarm einmal nicht hört, weil man z.B. duscht und das Telefon deshalb nicht hört. Dann wird die Alarmierung zum am nächsten gelegenen Helfenden weitergeleitet.
Prückner: Ich möchte bei den Kolleg*innen an ihre Menschlichkeit und ihre Berufsehre appellieren. Mit „München rettet Leben“ und der Registrierung in der App kann man mit einer einfachen Maßnahme einen großen Unterschied machen – und so vielleicht einem Nachbarn, einer Nachbarin oder einem anderen Menschen in der Nähe das Leben retten. Es ist ein gutes Gefühl, geholfen zu haben, auch wenn nicht jede*r gerettet werden kann. Der Aufwand und die Gefahren sind gering, aber der Effekt kann sehr groß sein. Je mehr Helfende mitmachen, desto dichter wird das Netz und desto mehr Menschen können bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand überleben.
Stephanie Hügler
MÄA 16 vom 02.08.2025