Leitartikel

Neues aus der Krebsmedizin, Personalisierte Therapie macht Hoffnung

Kein Krebs gleicht dem anderen – das macht die Entwicklung von Therapien für alle so schwierig. Über Perspektiven für eine passgenaue Behandlung und die Rolle der Pandemie bei der Versorgung sprachen die MÄA mit Prof. Dr. Hana Algül vom Klinikum rechts der Isar und Prof. Dr. Volker Heinemann vom LMU Klinikum.

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Herr Prof. Algül, Herr Prof. Heinemann, wie ist die aktuelle Lage für Krebskranke in Ihren Kliniken?

Algül: Wir sind derzeit zu 100 Prozent ausgelastet. Covid-19-Patient*innen werden bei uns überwiegend auf den Normalstationen untergebracht. Es ist kein Bett mehr frei. Viele Patient*innen kommen mit anderen Erkrankungen zu uns, haben dann aber zusätzlich einen positiven Test auf Omikron, was unseren Aufwand erhöht – auch zu Lasten z.B. der Tumorpatient*innen ohne Covid. Wer ohne Covid in die Notaufnahme kommt, bekommt womöglich nicht gleich ein Bett, sondern wird – sofern medizinisch vertretbar – wieder nach Hause geschickt. Die Entspannung, die man in der Presse mitbekommt, spüren wir für unsere Tumorpati[1]ent*innen nicht umfänglich. Zudem ist der Zulauf von Tumorpatient*innen zuletzt bei uns angestiegen. Heinemann: Das ist bei uns ähnlich. Sobald ein Bett frei wird, wird uns sofort aus der Region ein neuer Patient zugelegt. Auch mit Intensivpatient*innen aus dem Covid-Bereich sind wir weiterhin hochgradig belegt.

Wie ging es den Krebskranken in zwei Jahren Pandemie??

Heinemann: Aus meiner Sicht hatten wir in den verschiedenen SARSCoV2-Wellen für Tumorpatient*innen – für Vorsorge, Behandlung und Nachsorge – deutlich weniger Platz. Um den ambulanten Patientenverkehr zu reduzieren, mussten wir die Vorsorgeleistungen vorübergehend deutlich reduzieren und haben den Bereich der Nachsorge auf das unbedingt Notwendige heruntergefahren. In der Chirurgie mussten wir die Operationen zum Teil sehr deutlich zurückfahren, da uns die erforderlichen Intensivkapazitäten im NonCovid-Bereich fehlten. Auch im stati[1]onären Bereich mussten wir ganze Stationen sperren. Hinzu kommt: Inzwischen haben wir zwar gelernt, mit Covid-19-Patient*innen umzugehen und haben diesen Bereich hervorragend reguliert. Doch beim Non-Covid-Bereich ist das weit weniger der Fall – siehe das Beispiel von Prof. Algül zur Nothilfe. Unterm Strich hatten und haben wir in meinen Augen eine ganz konkrete Benachteiligung der lebensgefährlich erkrankten Tumorpatient*innen ohne Covid19, bei denen die stationäre Versorgung aufgrund der Bettenknappheit deutlich schwieriger wurde. Über diese Themen wird in der Öffentlichkeit leider kaum gesprochen.

Algül: Ich kann das unterstützen. Die Tumorpatient*innen haben gelitten. Auf unseren internen Prioritätslisten stand die Onkologie trotzdem immer ganz weit oben. In der ersten Welle waren wir alle sehr unsicher und haben daher vorsorglich die Vorsorgeuntersuchungen heruntergefahren. Danach waren wir aus meiner Sicht besser vorbereitet, sodass wir auch bei den Tumorpatient*innen eine Versorgung auf höchstem Niveau gewährleisten konnten. Dafür sind aber leider andere Bereiche „hinten runtergefallen“.

Wie haben Ihre Tumorpatient*innen auf SARS-CoV-2 reagiert?

Heinemann: Unser Patient*innen, z.B. in den Tageskliniken, haben sehr gut auf sich aufgepasst. Es gab dort nur ganz wenige Covid-Erkrankungen, sodass wir unsere tagesklinischen Chemotherapien nahezu ungehindert weiterführen konnten. Gleichzeitig hatten viele Patient*-innen aber Sorge, in die großen, hochspezialisierten Zentren zu gehen – und haben daher teilweise ihre Vor- und Nachsorge vernachlässigt. Dabei ist das der Ort, an dem sie die optimale onkologische Diagnostik und Therapie erhalten.

Algül: Ja, und auch nach Aufhebung unserer Maßnahmen bessert sich das leider nur mühsam. Wir gehen daher aktuell wirklich von einer Lücke bei den Vorsorgeuntersuchungen aus. Was für Auswirkungen das hat, werden wir anhand von belastbaren Daten erst in den kommenden Jahren sehen. Kolleg*innen aus Italien haben mir aber berichtet, dass bei ihnen der Anteil der Patient*innen mit metastasierten Erkrankungen deutlich zugenommen hat. Das überrascht mich nicht.

Wurden wegen der Pandemie Forschungsgelder aus der Onkologie abgezogen?

Heinemann: Nein. Es ist an den Zentren natürlich sehr viel Geld für die Covid-19-bezogene Forschung ausgegeben worden. Man hat sich aber sehr viel Mühe gegeben, gegenzusteuern und uns nicht „verhungern“ zu lassen.

Algül: Die Wissenschaft als solche hat von dieser Pandemie hinsichtlich der Förderung eher profitiert, weil das Bewusstsein für das, was sie leisten kann, z.B. durch die Entwicklung von Impfstoffen und genaue Diagnostik, gestiegen ist.

Wird es durch die Covid-Impfung womöglich bald eine Krebs-Impfung geben?

Heinemann: Ich kann Ihnen nur ganz vorsichtig sagen, dass vergleichbare Prinzipien natürlich gerade Eingang in die Krebsforschung finden. Das schnelle Aufspringen auf die Impfung gegen SARS-CoV-2 war nur deshalb möglich, weil es die – ursprünglich im Hinblick auf Tumortherapien entwickelte – mRNA-Technologie schon gab. Die Forschung läuft natürlich weiter, ist aber noch nicht konkret in der klinischen Anwendung angekommen. Auch wir sind hier an Studien beteiligt.

Algül:. Wir haben gelernt, dass ein sehr schneller Transfer einer Technik auf eine Viruserkrankung möglich ist und gute Erfolge zeitigt. Daraus Schlussfolgerungen für die Tumortherapie zu ziehen, ist meiner Ansicht nach aber noch viel zu früh.

Was gibt es Neues in der Krebsmedizin?

Algül: Weiterhin geht es um die Immuntherapien, die Zelltherapien, die das Immunsystem gegen den Krebs stärken (Anm. der Redaktion: Weiteres zur Immuntherapie s. Interview mit Prof. Dr. Angela Krackhardt in MÄA 05/2019). Zunehmend wichtig werden zielgerichtete Therapien. Lange Zeit haben wir z.B. mit dem wichtigsten Onkogen, KRAS, gekämpft, weil wir es therapeutisch nicht richtig adressieren konnten. Jetzt, nach bestimmt drei oder vier Jahrzehnten Forschung, können wir es doch therapeutisch angehen. Derzeit überprüfen wir diese Inhibitoren in der Klinik. Ansätze der individualisierten oder personalisierten Tumortherapie auf der Grundlage genetischer Analysen sind bei uns mittlerweile Standard. Der Standort München ist sicher einer der führenden in Deutschland.

Heinemann: Die Immuntherapie ist sicher eine der wichtigsten Behandlungsoptionen an unseren Zentren – z.B. die sogenannte CAR-T-ZellTherapie. Darüber hinaus sind Hana Algül und ich gerade dabei, ein Zentrum für personalisierte Medizin in München zu entwickeln, um unseren Patient*innen flächendeckend eine erweiterte molekulare Diagnostik und dann auch die dazugehörende Präzisionstherapie anbieten zu können. Im Rahmen der erweiterten molekularen Diagnostik suchen wir nach therapeutisch nutzbaren Mutationen, z.B. nach bestimmten KRASMutationen. Als universitäre Exzellenzzentren sind wir in der Lage, die z.T. sehr komplexen Befunde der DNA-Analysen zu beurteilen und in molekularen Tumorboards optimale Behandlungsansätze zu finden. Dieses diagnostische Angebot möchten wir gern allen Patient*innen machen.

Bei welchen Krebsarten ist man schon gut weitergekommen?

Heinemann: Am weitesten sind wir sicher beim Lungenkarzinom und beim Brustkrebs gekommen, gefolgt vom schwarzen Hautkrebs. Es kommen aber immer mehr Erkrankungen dazu, bei denen wir hinzulernen – z.B. Darmkrebs, Magenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Leberzellkrebs, Nierenkrebs. Algül: Bei einigen Tumorerkrankungen, bei denen wir bisher keine guten Therapieoptionen hatten, katapultiert sich die molekulare Diagnostik derzeit rapide nach vorne. Beim fortgeschrittenen Gallengangskrebs etwa gehört sie mittlerweile zum Standard, weil man nun endlich einigen Patient*innen eine molekular gezielte Therapie anbieten kann.

Steht bei einer Krebsart derzeit der große „Durchbruch“ kurz bevor?

Algül: Wir Krebsmediziner*innen denken heute nicht mehr in Tumoren, sondern in genetischen Mutationen, die in vielen Tumoren vorkommen können. Wenn wir eine genetische Mutation behandeln können, können wir auf diese Weise gleich mehrere Tumoren behandeln. Durch die Fortschritte z.B. bei KRAS-Mutationen eröffnen sich uns heute vollständig neue Behandlungsoptionen. Heinemann: Bei den hämatologischen Erkrankungen gab es zuletzt die größten Fortschritte in der Behandlung von Lymphomen, insbesondere durch die CAR-T-Zell-Therapie. Diese neue Behandlungsoption ist in der Durchführung sehr komplex, erfordert große Expertise und wird derzeit nur an den großen Zentren angeboten.

Sind Immuncheckpoint-Inhibitoren noch ein wichtiges Thema?

Heinemann: Es gibt auf diesem Gebiet immer mehr Zulassungen. Gerade beim Magenkarzinom zum Beispiel haben wir zuletzt enorm viel gelernt. Und im letzten Jahr z.B. konnten wir bei einem jungen Patienten mit Dickdarmkrebs und erblicher Vorbelastung einen Checkpoint-Inhibitor erfolgreich einsetzen. Bei der anschließenden Operation konnte dann kein Krebs mehr nachgewiesen werden. So effektiv ist die körpereigene Immunabwehr, wenn man sie stimuliert.

Algül: Checkpoint-Inhibitoren sind immer noch ein Thema, haben sich inzwischen aber schon als wichtiges therapeutisches Standbein etabliert. Die Forschung schreitet derzeit voran in Richtung zellbasierter Immuntherapie oder Impfung, um die Immunabwehr gegen den Krebs zu steigern.

Wenn Sie in die Glaskugel schauen: Was sehen Sie für die kommenden fünf Jahre?

Heinemann: Ich glaube, dass die erweiterte molekulare Diagnostik immer spezifischer und besser werden wird. Derzeit werden diese Therapien den Patient*innen oft erst angeboten, wenn sie die Standardtherapie bereits durchlaufen haben – zum Teil, weil die Entwicklung noch nicht weit fortgeschritten ist, zum Teil auch aus Kostengründen. Es wäre toll, wenn wir unseren Patient*innen bereits bei der Diagnose anbieten könnten, was ihnen optimalerweise hilft – nicht nur im Zentrum, sondern auch in der Fläche. Unser Auftrag ist in zunehmendem Maße die Vernetzung in der Region – mit den städtischen Häusern, den niedergelassenen Onkolog*innen, nicht nur in München, sondern auch in den umliegenden Landkreisen.

Haben Sie eine Botschaft an die niedergelassenen Kolleg*innen?

Heinemann: Wir müssen lernen, zugunsten der Patient*innen enger zusammenzuarbeiten. Zu unseren interdisziplinären Tumorkonferenzen laden wir daher zunehmend auch Niedergelassene und periphere Krankenhäuser ein. Als ich neulich bei einem Treffen mit niedergelassenen Onkolog*innen und Hämatolog*innen eine Zusammenarbeit angeboten habe, war die erste Frage: Welchen Nutzen haben wir von Euch? Unsere Antwort ist: Wir als Zentrum können den Patient*innen die erweiterte molekulare Diagnostik mit all ihren Perspektiven anbieten. Zudem richten wir unseren Blick auch auf seltene Tumorerkrankungen, die wir in den Zentren häufiger sehen. Die Patient*innen müssen allerdings auch den Zugang zu uns bekommen.

Algül: Ich kann das nur unterstreichen: Die Zusammenarbeit der Niedergelassenen mit den Hochleistungszentren ist unumgänglich, weil der Fortschritt so rasant ist, dass die Niedergelassenen all das nicht in ihren Praxen vorhalten können. Wir als Zentren bieten unsere Hilfe an. Wir können die Niedergelassenen nur ermutigen, diese wahrzunehmen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 5 vom 26.02.2022